Das Wichtigste in Kürze
- Personalbeschaffung ist Kernelement unternehmerischen Risiko-Managements
- HR hat hier viel richtig gemacht, agiert aber oft zu sehr an den eigenen Bedürfnissen ausgerichtet, ist zu prozessual-technisch und verliert dadurch Kandidaten und bares Geld
- Ein auf lange Sicht effizientes und ertragsoptimiertes Recruiting braucht daher eine Überprüfung der Grundhaltung
- Die „Candidate Journey“ muss deswegen anders gedacht und gestaltet werden – damit die „Candidate Experience“stimmt
- Dabei sind oft die kleinen Dinge entscheidend, sie kosten nicht viel und sind meist einfach umsetzbar
Stellen Sie sich vor, Sie sind HRler und werden von einem Berater auf eine Aufgabe hin angesprochen, die spannend klingt und für Sie ein sehr attraktiver Entwicklungsschritt sein könnte. Das Briefing ist sehr gut und von hoher Qualität. Das Unternehmen: Internationaler „Hidden Champion“ im produzierenden Gewerbe mit mehreren Tausend Beschäftigten. Tolles Wachstum, es sind viele Themen parallel auf der Platte und man braucht kompetente Verstärkung wie Sie. Sie haben aber halt keinen Wechselzwang und erwarten daher auch, dass man sich ein wenig um Sie bewirbt. Ein respektvolles Gespräch auf echter Augenhöhe setzen Sie dabei als Mindestmaß voraus.
Nun warten Sie im Besprechungsraum und es ist mehr als das akademische Viertel vergangen, als der CEO und die künftige Führungskraft den Raum betreten. Sie blicken dabei auf ihre Handys, lesen nebenbei noch ein paar E-Mails. Die Handys werden demonstrativ und offenbar selbstverständlich vor sich auf den Tisch gelegt. Das Gespräch geht dann ohne Entschuldigung für die Verspätung los, ist sehr einseitig auf Ihren Hintergrund fokussiert und bietet aufgrund eines engen Terminplans der Gesprächspartner kaum Möglichkeit, die für die Deckung Ihrer Bedürfnisse wichtigen Punkte herauszuarbeiten. Zeit für den ein oder anderen Blick auf die Handys hat man hingegen. Sie sitzen anschließend im Auto, lassen das Gespräch kurz sacken und entscheiden, dass Sie hier keine Nacht darüber schlafen müssen.
Personalbeschaffung ist unternehmerisches Risiko-Management
Dabei sind doch die Sorgen und die Gewinnung von Fach- und Führungskräften gefühlt seit Jahrzehnten immer wieder ganz oben auf der Liste der größten unternehmerischen Herausforderungen aus Sicht von CEOs.
Offenbar liegen strategischer Anspruch und operative Realitäten nach wie vor weit auseinander. Hier wird viel Kapital verspielt, das zuvor mühevoll erarbeitet wurde und dringend Zinsen abwerfen muss in einem in vielen Berufsfeldern dauerhaften Arbeitnehmermarkt, der schon lange einen Paradigmenwechsel hin zum Bewerben der Arbeitgeber bei den so verzweifelt gesuchten Fachkräften erfordert. Vordergründig tun das viele, doch kratzt man ein wenig an der Oberfläche, dann stellt man schnell fest, dass darunter alte Denk- und Verhaltensmuster wabern, die höherer Wirksamkeit und besseren Erträgen im Recruiting im Wege stehen.
HR hat viel richtig gemacht
Denn eigentlich hat HR schon viel erreicht, um sich in einem bedeutenden strategischen Thema des unternehmerischen Risiko-Managements und der Zukunftssicherung zu profilieren.
Viele haben die Personalbeschaffung in die Hände von Spezialisten gelegt, eigene In-House Recruiting- bzw. Talent Acquisitioneinheiten aufgebaut und externe Partnerschaften verstärkt. Strategisches Employer Branding eingeführt, viel wurde vom Marketing gelernt. Personas entworfen. Online Reputation Management gestartet.
Rekrutierungsprozesse und -systeme entlang der „Candidate Journey“ – d. h. entlang aller Kontaktpunkte, die Kandidaten während eines gegenseitigen Kennenlernens mit einem Unternehmen haben - neugestaltet. Um diese „Candidate Journey“, geboren als Kind des Marketings aus der „Customer Journey“, zu adoptieren, mitunter misszuverstehen und schlimmstenfalls zu verziehen.
Kostenoptimierungszwänge, die eine wirklich in allen Fasern durchdrungene Professionalisierung des Recruitings verhindern können, spielen hier eine Rolle. Eine manchmal fragwürdige strukturelle Ein- bzw. Unterordnung z. B. unter die Personalentwicklung eine andere. Von der Aufteilung der operativen Recruiting-Wertschöpfungskette zwischen den Recruitern und HR Business Partnern ganz zu schweigen. Das alles muss man innerhalb der betrieblichen Realität in einem gewissen Maß akzeptieren.
Raus aus der prozessual-technischen Ecke in eine neue Grundhaltung
Womit wir HRler uns aber keinen Gefallen tun, ist mit dem oft hausgemachten, ausgeprägt prozessual-technischen Herangehen, das die Bedürfnisse der eigenen Organisation über die der Kunden stellt. So etwas spiegelt sich dann entsprechend in der eigenen Kommunikation, der externen Wahrnehmung und am Ende in den Ergebnissen wider. Von außen betrachtet möchte man da schon manchmal die Frage nach Empathie und Reflexionsfähigkeit stellen. Schließlich sitzen die Kunden im Recruiting-Kontext erst in zweiter Linie im Business.
Es sind vielmehr diejenigen, die – wenn man das mit dem „Abholen“ und dem „Mitnehmen“, mit der „aufrichtigen Wertschätzung“, den „Dialogen auf Augenhöhe“ und dem „Feedbackgeben“ wirklich ernst meint – aus anderer Sicht betrachtet und behandelt werden müssen. Es sind die künftigen Partner*innen, Mitgestalter*innen und Innovatoren*innen einer Organisation, um die HR und noch mehr das Business sich mit geänderter Grundhaltung bemühen müssen. Es sind diejenigen, die immer noch und fälschlicherweise als Bewerber*innen bezeichnet werden.
Deswegen muss die „Candidate Journey“ anders gedacht und gestaltet werden.
Beziehungsanbahnung statt Candidate Journey
Man nehme zwei Parteien, die im Rahmen eines gegenseitigen Kennenlernens herausfinden möchten, ob ihre jeweiligen Bedürfnisse durch ein längerfristiges Miteinander befriedigt werden können. Kommt das bekannt vor? Wir haben es also mit einer Beziehungsanbahnung zu tun. Nennen wir das Kind doch mal bei diesem Namen, vielleicht hilft das aus der prozessual-technischen Ecke rauszukommen. Die Sprache verrät halt auch die Haltung. Am Ende mag das Semantik sein – mir geht es vielmehr darum, die Elemente der „Candidate Journey“ unter diesem Aspekt neu zu denken und zu gestalten.
Die Zutaten dafür werde ich für Sie in meinen folgenden Blogs schrittweise unter die Lupe nehmen. An vielen Stellen handelt es sich um relativ kleine, relativ einfach und kostengünstig zu ändernden Stellschrauben.
Im Beispiel oben hätte es ein vorheriges Abholen der Linie wie auch eine einfache Selbstreflexion gebraucht über die non-kommunikativen Signale, die man mit gewissen Verhaltensweisen sendet und die im Kontext eines gegenseitigen Kennenlernens ein absolutes Gehtgarnicht sind – und mögen sie in einen dynamischen Arbeitsalltag und die Kultur des Hauses noch so eingebrannt sein. Ein solcher Klartext gehört schließlich zur „Begleitung“ des Business dazu; hier muss HR den Prozess konsequent auch in solch kleinen, aber eben entscheidenden Details von A bis Z komplett managen. Und sich nicht dort zurückziehen, wo die Linie ins Spiel kommt oder wie hier, schlimmer noch, das gleiche Spiel mitspielen.
Es hat in diesem Fall selbstverständlich ein entsprechendes Feedback gegeben. Raten Sie mal, wie fähig und bereit man war, das anzunehmen.